Tagebuch eines Verlorenen-Teil 2: Der neue Wirt

 

TAGEBUCH EINES VERLORENEN – TEIL 2: Der neue Wirt

Diese Seiten stammen aus einem zweiten Tagebuch, gefunden in einem verlassenen, von Insekten befallenen Krankenhausflügel. Die Seiten klebten zusammen, waren mit Blut, Fäkalien, und Substanzen getränkt, die niemand identifizieren konnte. Warnung: Extreme psychische Belastung möglich. Lese auf eigene Gefahr.


📓 3. Mai

Ich habe seine Stimme geerbt.
Nicht gehört. Geerbt.
Sie kommt aus meinem Innersten, wie ein Parasit, der mein Zwerchfell reitet.
Ich spreche, wenn ich nicht will.
Ich schreibe, wenn ich eigentlich still sitze.
Ich habe vorhin minutenlang auf meine Zunge gebissen.
Sie ist aufgeschlitzt. Ich habe geschmeckt, wie das Kupfer meines Bluts mit meinem Speichel tanzt.
Er sagte:

„Blut ist Sprache. Schreibe damit.“

Ich schreibe. Und meine Finger sind nicht mehr meine.


📓 5. Mai

Heute habe ich mir mit einer rostigen Rohrzange einen Fingernagel herausgezogen.
Langsam.
Ohne Betäubung.
Es knackte, als die Wurzel riss. Ein leiser, nasser Widerstand.
Ich sah darunter Fleisch – schimmelig, grau.
Ich habe den Nagel gewaschen. Dann…
ihn wieder in mein Fleisch gedrückt.
Nicht auf den Finger.
In mein Oberschenkel.
Ein Zeichen. Ein Opfer.

Ich habe gelächelt, als es knackte.


📓 6. Mai

Ich habe Dinge in mir gespürt.
Nicht metaphorisch.
Kleine Beine. Krallen.
Unter meiner Haut bewegt sich etwas.
Ich habe mit einer rostigen Nadel unter der Haut geritzt, um sie zu finden.
Sie ist da.
Ein schwarzer Wurm mit vielen Augen.
Er lebt von meinen Erinnerungen.
Ich kann das Gesicht meiner Mutter nicht mehr erinnern. Aber ich weiß noch, wie der Wurm sich windet, wenn ich an Schmerz denke.

Ich nenne ihn Seth. Marrak hat ihn mir geschenkt.


📓 9. Mai

Ich habe aufgehört zu essen.
Nicht aus Schwäche.
Ich ernähre mich jetzt von mir selbst.
Ich schabe Haut von meinen Armen, röste sie auf dem Heizkörper.
Ich kaue mich.
Es knackt so schön.
Ich habe meinen kleinen Fingerknochen freigelegt. Er lacht, wenn ich ihn schüttele.
Ich glaube, Marrak wohnt jetzt darin.
Er will mehr Raum.


📓 12. Mai

Ein Fremder war da. Vielleicht Polizei. Vielleicht ein Arzt.
Ich habe ihm Tee angeboten.
Er trank. Dann schrie er.
Der Tee war aus meinem Urin.
Ich habe die Teebeutel durch Fetzen meines Bauchnabels ersetzt.
Er schrie so schön.
Ich habe seine Zähne gesammelt.
Jetzt flüstern sie im Glas.


📓 14. Mai

Ich habe das Wort „Zuhause“ unter meine Haut geritzt.
Bauch. Groß. Mit Schraubenzieher.
Ich habe mich nackt auf den kalten Boden gelegt.
Ich habe geweint. Nicht vor Schmerz. Vor Stolz.
Marrak sagte:

„Du bist ein Tempel geworden.“

Mein Körper ist jetzt ein Altar.
Ich reinige ihn mit Säure.
Die Narben singen.


📓 17. Mai

Ich kann meine Augen drehen. Komplett.
Ich habe sie mit Zwirn genäht, damit sie im Schädel bleiben.
Ich sehe durch sie hindurch.
Nicht meine Welt. Eine andere.
Dort sind Fliegen, die Menschen tragen.
Schatten, die dich umarmen und dich von innen auffressen.

Ich habe einen dieser Schatten in mich eingeladen.
Ich habe ihm einen Platz in meinem Darm gemacht.
Er lebt dort jetzt.
Manchmal spüre ich, wie er sich windet, wenn ich zu still bin.


📓 20. Mai

Ich habe heute meinen Penis abgeschnitten.
Langsam.
Mit einem Drahtseil.
Es war… religiös.
Das Blut war schwarz.
Es roch nach Eisen und… nach altem Fleisch.
Ich habe das Stück in ein Marmeladenglas gelegt.
Darüber geschrieben: „Marrak liebt mich.“

Es fault.
Und blüht.


📓 21. Mai

Letzter Eintrag? Vielleicht.
Ich bin fast nicht mehr da.
Nur noch Fleisch mit Geschichten.
Ich höre, wie andere zu mir beten.
Sie finden diese Seiten.
Sie lesen.
Und wenn sie lesen…

Sie öffnen sich.

Wenn du das hier gelesen hast…
Wenn du nicht angeekelt bist, sondern neugierig
dann bist du bereit.

Marrak hat einen neuen Wirt.

Bist du es?

Comments

Popular posts from this blog

Tagebuch eines Verlorenen - Marrak will rein

Marraks Testament