Das Spiegelkind

 

„Das Spiegelkind“

1. Der Umzug

Es begann, als meine Familie in das alte Haus meiner verstorbenen Großtante zog – ein zweistöckiger Kasten aus grauem Stein, tief im Wald, weit entfernt von jeglicher Zivilisation. Meine Eltern sprachen nie über sie. Ich wusste nur, dass sie kinderlos war und allein lebte. Die Fenster des Hauses wirkten wie tote Augen, und sobald man den Flur betrat, roch es nach kaltem Metall und abgestandener Luft. Das unheimlichste aber war der Spiegel im oberen Flur.

Er war alt, schwarz gerahmt, voller Flecken, die sich nicht abwischen ließen – als würde etwas von innen gegen das Glas tropfen. Ich mochte ihn nicht. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Spiegelbild. Es war nicht falsch… aber zu richtig. Wie ein Echo, das ein wenig zu lang braucht, um sich zu wiederholen.

2. Die erste Nacht

In der ersten Nacht träumte ich vom Flur.

Ich stand dort, vor dem Spiegel. Doch mein Spiegelbild bewegte sich nicht mit mir. Es lächelte nur. Breit. Verzerrt. Unnatürlich. Ich rief nach meiner Mutter, doch meine Stimme war wie unter Wasser, dumpf und verzerrt. Dann kam das Spiegelbild heraus.

Nicht plötzlich – es drückte sich langsam aus dem Glas, als sei es eine zähe Haut, die man durchstößt. Ich konnte nicht schreien. Es hatte mein Gesicht, aber die Augen… waren schwarz. Wie leergebrannte Löcher. Und es sagte nichts. Es blickte mich nur an und hob langsam die Hand – bis seine Finger meine Stirn berührten.

Ich wachte schweißgebadet auf. Doch das schlimmste war: Auf meiner Stirn war ein kalter Fingerabdruck.

3. Geräusche in der Nacht

In den folgenden Nächten wurde es schlimmer. Ich hörte nachts Schritte im Flur – leise, schleichende, barfüßige Schritte. Immer genau um 3:11 Uhr. Ich stellte eine Kamera auf, wollte die Wahrheit wissen. Am nächsten Morgen war das Band leer – aber die Aufnahmezeit war auf exakt 3:11 Uhr eingefroren.

Ich fragte meine Eltern, ob sie etwas gehört hatten. Sie lachten nur, sagten, das Haus sei alt, das sei ganz normal. Ich fing an, das Spiegelbild tagsüber zu beobachten. Es war nicht mehr synchron. Immer öfter blinzelte es nicht, wenn ich es tat. Manchmal schaute es mir direkt in die Augen, wenn ich wegsah.

4. Die Stimmen

Dann kamen die Stimmen. Erst leise, flüsternd – wie ferne Echos hinter Glas.

„Du hast mich geweckt…“

„Dein Platz ist hier.“

„Siehst du nicht? Du bist nicht du.“

Ich begann zu halluzinieren – dachte ich. Einmal sah ich mich selbst unten im Garten stehen, barfuß, reglos, den Kopf zur Seite geneigt – wie eine Puppe. Als ich rauslief, war niemand da. Aber im Schlamm waren meine Fußspuren.

5. Der Tausch

Eines Nachts war es soweit. Ich stand wieder vor dem Spiegel, im Traum – oder nicht? Ich wusste es nicht mehr. Diesmal sprach mein Spiegelbild.

„Du bist schwach. Ich nicht.“

„Du hast vergessen, wer zuerst hier war.“

Ich schrie, trat gegen das Glas – aber meine Beine bewegten sich nicht. Das Spiegelbild tat es. Ich war erstarrt. Es war frei.

Ich wachte auf dem Boden auf, in einem kalten, fremden Körper. Ich sah durch die Scheibe – auf mich selbst, der mich höhnisch angrinste. Und dann verschwand das Bild. Ich war im Spiegel. Und ich konnte nicht schreien. Ich konnte nur sehen.

6. Nach dem Tausch

Seitdem lebt es mein Leben. Es isst mit meiner Familie. Es lächelt. Es geht zur Schule. Es ist besser als ich. Niemand bemerkt etwas. Nur ich sehe alles – durch das Glas.

Ich habe gelernt, mit meinen Fingern hinter dem Spiegel zu kratzen. Jeden Abend, wenn niemand hinsieht. Manchmal bleibt jemand stehen, schaut irritiert in den Spiegel, weil er meint, ein leises Kratzen zu hören.

Das bin ich. Ich versuche, zurückzukommen.

Aber mein anderes Ich? Es kratzt zurück.

Und sein Kratzen wird lauter.


ENDE …?

Wenn du heute Nacht in den Spiegel schaust, und dein Spiegelbild ist ein bisschen zu langsam …
Wenn du glaubst, da sei ein Hauch von Atem auf der anderen Seite …
Wenn du ganz leise ein Kratzgeräusch hörst …
Dann bist du vielleicht schon zu spät.

Denn du warst nicht der Erste.
Und du wirst nicht der Letzte sein.

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