Tagebuch eines Gebundenen
Tagebuch eines Gebundenen
Auszug aus dem gefundenen Buch der Schwarzdorn-Riten
Datum: unbekannt. Nur das Blut zählt die Zeit.
Tag 1
Ich habe meinen Namen vergessen. Oder sie haben ihn mir genommen. Sie sagen, Namen seien Fesseln der alten Welt. Jetzt nennen sie mich nur „Knochenheiler“. Aber ich heile nichts. Ich forme. Ich binde. Ich ziehe die Sehnen straff, bis sie wie Geigensaiten klingen.
Heute war meine Weihe.
Sie führten mich in den Kreis – nicht mit Worten, sondern mit Stahlhaken durch die Schulterblätter. Ich durfte nicht schreien. Schreien ist das alte Fleisch, sagten sie. Ich soll lernen, mit geschlossener Kehle zu leiden.
Der Boden des Ritualraums war warm. Nicht von Feuer – sondern von der Haut derer, die darunter lagen. Der Boden lebt. Er atmet. Und wenn man lang genug stillsteht, wachsen dir Fingernägel aus den Spalten zu Füßen.
Tag 4
Der erste Mensch wurde gebracht.
Ein Mann, nackt, gefesselt – nein, genäht – mit seinen eigenen Sehnen. Sie hatten sie aus seinen Armen gezogen wie Gitarrensaiten. Ich musste sie mit einem Elfenbein-Nadelstock an seine Brustnägel tackern, damit er sich selbst nicht zerreißt, bevor der Kreis bereit ist.
Seine Augen wurden nicht entfernt. Das kommt später.
Er war nicht ruhig. Sie sagen, das ist normal beim ersten. Ich hörte seine Zähne klappern wie Kastagnetten. Seine Zunge war so oft abgebissen worden, dass sie ihm eine neue genäht hatten. Aus Maden. Ich sah, wie sie sich bewegte, wenn er sprach.
Er bat um den Tod.
Sie lachten.
Tag 6
Das Ritual war ein Erfolg.
Wir haben seine Wirbelsäule aus seinem Rücken gezogen – aber nicht entfernt. Wir haben sie um seinen Hals gewickelt wie ein Schal. Der Körper lebt noch. Und der Schädel… der Schädel spricht jetzt mit uns. In Träumen. Seine Stimme klingt wie zerreißendes Fleisch.
Wir nennen ihn den Zungenträger. Seine Zunge wurde in den Altar eingearbeitet. Jetzt ist der Stein warm und sabbert, wenn wir beten.
Ich bete nie laut. Ich flüstere. Denn der Altar hört.
Tag 9
Ich habe zum ersten Mal jemanden vorbereitet.
Eine Frau, jung, schön. Oder sie war es. Ich entfernte ihr Gesicht in einem Stück. Ein kleines Meisterwerk – wie das Schälen einer Frucht. Darunter kam ein zweites Gesicht zum Vorschein. Runzlig, mit Augen wie verbrannte Eier.
Sie hat nie geschrien.
Sie hat gesungen.
Ein Lied, das mir die Ohren bluten ließ. Jetzt höre ich alles wie unter Wasser. Das sagen sie, ist ein Geschenk. Die Stimme der „Alten hinter dem Nebel“ ist nicht für gesunde Trommelfelle gedacht.
Ich bewahre ihr Gesicht in einer Box. Es bewegt sich manchmal.
Tag 13
Es war meine Aufgabe, das Tor zu öffnen.
Ich musste ein Kind nehmen – lebendig – und aus seinem Rückgrat ein Schlüsselkreuz formen. Die Gelenke mussten noch warm sein. Ich tat es mit den Zähnen. Ich würgte, als das Knochenmark meinen Gaumen verklebte. Doch der Kreis sang, und die Wände zitterten.
Als das Tor aufging, war da nichts. Nur ein Auge. Riesengroß. Pupille wie ein Loch, aus dem Stimmen kamen.
Eine davon war meine.
Ich habe noch nie so sehr geweint.
Aber ich hatte keine Augen mehr. Ich weinte über meine Poren. Es war rot. Es war salzig. Es war… ich.
Tag 18
Ich schreibe das nicht mehr für mich.
Ich schreibe für sie.
Denn nachts, wenn ich schlafe, kriecht mir etwas in die Finger. Es bewegt meine Hand. Es kritzelt Zeichen, die ich nicht lesen kann. Manchmal ist das Papier am Morgen voll mit Hautfetzen. Ich weiß nicht, von wem.
Ich habe mich heute im Spiegel gesehen. Mein Gesicht ist genäht. Mein Lächeln zu breit. Meine Haut lebt nicht mehr. Sie bewegt sich, aber ich spüre sie nicht. Ich glaube, sie gehört mir nicht mehr.
Ich bin ein Gefäß. Eine leere Stimme.
Letzter Eintrag – Tag Unbekannt
Heute ist der Tag der Umkehrung. Der Kreis wird vollendet. Ich soll mich selbst öffnen. Von der Stirn bis zum Becken. Sie haben mir gezeigt, wo ich schneiden muss. Die Klinge wurde aus menschlicher Zahnmasse geschmiedet. Sie summt, wenn ich sie halte.
Wenn du das liest, bist du vielleicht einer wie ich. Ein Neugieriger. Ein Suchender.
Aber sie werden dich finden. Du hast jetzt gesehen.
Der Kreis sieht durch Worte.
Und du hast zu lange gelesen.
Sie sind auf dem Weg.
Schneide dich auf.
Oder sie tun es für dich.
— K.
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