Teil 3: Das Karussell, das nie stillsteht

 

Teil 3: Das Karussell, das nie stillsteht

Ich habe nicht geschlafen. Nicht, seit ich aus dem Puppenhaus entkommen bin. Wenn man es überhaupt entkommen nennen kann. Es hat mich gehen lassen. Mit Absicht. Wie etwas, das mit seinem Spielzeug fertig ist.

Ich stolperte durch rostige Gänge, vorbei an Schädeln mit clownbemalten Wangen und mumifizierten Körpern, die wie Pappfiguren an die Wände genagelt waren. Überall hingen Lautsprecher, aus denen in Endlosschleife ein leises, kratziges Lachen drang – dasselbe Lachen wie in meinen Träumen.

Ich trat durch einen schmalen Vorhang aus Kinderkleidung. Dahinter: Licht.

Ein Karussell.

Mitten in einer riesigen Halle aus schwarzem Blech. Die Decke war zu hoch, um sie zu sehen. Und das Karussell… es drehte sich. Ohne Musik. Ohne Pause. Immer nur dieses Knarren. Wie ein Atemholen. Wie Knochen, die sich drehen, aber nie brechen.

Ich trat näher.

Die Tiere waren keine Pferde.

Eines sah aus wie ein Hund – nur mit zwei Mäulern, die statt Zähne Nadeln hatten. Ein anderes war ein Mischwesen aus Giraffe und Mensch, dessen Hals durch Ketten zusammengenäht war. Und das Schlimmste: Ein Reh, das mit offenem Brustkorb lächelte. In seinem Inneren: ein Kinderarm. Noch lebendig. Er zuckte.

„Fahr mit…“
„Du musst mitfahren…“
„Jede Runde macht dich… vollständiger.“

Ich weiß nicht, ob ich das flüsterte. Oder die Stimme aus mir kam.

Ich setzte mich auf das Reh. Es fühlte sich warm an. Glitschig. Es war, als würde ich in Eingeweide sitzen. Ich wollte aufspringen, aber da waren Hände. Kalte, schlaffe Hände, die aus dem Boden griffen und meine Beine umklammerten. Eine Stimme sagte:

„Du wolltest wissen, was hinter dem Lächeln steckt. Jetzt wirst du es sehen.“

Dann drehte sich das Karussell schneller.

Die Wände verschwammen. Ich sah Gesichter in der Dunkelheit. Bekannte. Meine Mutter. Meine Freunde. Sie alle weinten. Ihre Augen ohne Pupillen. Ihre Münder zu einem grausamen Grinsen aufgeschlitzt.

Ich hörte mein eigenes Lachen.

Nicht aus meinem Mund. Sondern aus dem Tier. Das Reh stöhnte. Aus seiner offenen Brust drang ein kindliches Kichern, das nach Eisen schmeckte. Mir wurde schwarz vor Augen.

Als ich wieder zu mir kam, war ich nicht mehr auf dem Karussell. Ich lag in einem Krankenzimmer. Steril. Weiß. Über mir: Ein Spiegel.

Ich sah mich an. Mein Gesicht… war nicht mehr meins.

Es war bemalt. Ein Clownslächeln. Dicke rote Farbe. Nur – es war keine Farbe.

Ich riss daran.

Meine Haut kam mit.

Comments

Popular posts from this blog

Tagebuch eines Verlorenen - Marrak will rein

Marraks Testament

Tagebuch eines Verlorenen-Teil 2: Der neue Wirt