Das Atelier der Stille

„Das Atelier der Stille“

Ein Dokument aus einem Ermittlungsakt, nie zur Veröffentlichung freigegeben.


Fundort: Untergeschoss, verlassene Galerie „Forma Mortis“
Funddatum: 02.04.2023
Vermerk: Beweismaterial Fall 177-D – „Der Künstler“
Status: VERTRAULICH


[Abschrift beginnt]

Man sagt, Kunst sei das, was bleibt, wenn das Leben geht.
Ich habe beschlossen, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Willkommen in meinem Atelier.

Ich bin kein Mörder.

Ich bin ein Bildhauer, ein Kurator des Letzten.
Ein Architekt der Stille.

Der Tod… ist meine Muse.
Und der Mensch? Mein Ton, mein Holz, mein Marmor.

Ich forme aus Leid. Ich schneide aus Angst. Ich spieße das Sterben auf wie ein Schmetterling unter Glas – und lasse es tanzen in ewigem Stillstand.


Objekt 01: „Das Gebet der Adern“

Ein Mann, 27, Priester.
Ich habe ihm die Haut an den Handgelenken gelöst, jede Sehne freigelegt, jede Ader wie Draht gezogen.
Dann kniete ich ihn nieder, legte seine Hände zum Gebet –
und verband sie mit sich selbst.
Eine Liturgie aus Fleisch.
Ein Stummes Amen.


Objekt 04: „Ballett der Letzten Kontraktion“

Eine Tänzerin, 19.
Ich habe ihr kurz vor dem Tod das Rückenmark stimuliert.
Der Körper zuckte. Zuckte. Zuckte.
Ich schweißte die Gelenke in dem Moment fest, in dem sie sich streckte –
ein letzter Sprung in die Ewigkeit.

Die Zuschauer nennen es „verstörend schön“.
Sie verstehen nichts.
Aber sie fühlen.
Und das reicht mir.


Objekt 12: „Echo im Rippenkäfig“

Ich nahm einen alten Mann. Ich ließ ihm seine Stimme. Nur seine Stimme.
Ich nahm alles andere.
Nur Kehlkopf, Lunge, ein Teil des Gehirns blieben erhalten – konserviert, lebendig.
Er stöhnt noch. Singt manchmal.
Ein Chor aus Atemzügen, die nie ganz sterben dürfen.

Kunst muss leben.
Oder leiden.
Beides ist gleich.


Die Galerie: „Forma Mortis“

Ich öffne sie nur einmal im Jahr. Nur nachts.
Die Einladungen gehen an Sammler, Mäzene, Menschen mit zu viel Geld und zu wenig Seele.
Sie betreten meine Hölle mit Wein in der Hand und staunen wie Kinder.
Einige weinen.
Andere… bestellen.

Ich nehme keine Bezahlung.
Ich nehme nur Geschichten.
Erinnerungen.
Träume.

Ich füttere meine Werke mit dem, was man ihnen nie zurückgeben kann: Vergangenheit.


Warum ich das schreibe?

Weil du, Leser, eingeladen bist.

Du liest das nicht zufällig.
Du hast gesucht.
Du hast dich gefragt, ob es mehr gibt. Ob es Wahrheit im Tod gibt.
Ich sage: Ja.
Sie liegt in der Stille zwischen zwei Herzschlägen.

Wenn du den Mut hast, geh in den Spiegelraum.
Sag dreimal:

„Forma Mortis.“
„Forma Mortis.“
„Forma Mortis.“

Wenn du dann die Schatten tanzen siehst –
dann weißt du,
dass du nicht länger nur Betrachter bist.

Du bist Teil des nächsten Werkes.


[Abschrift Ende]

Die Galerie „Forma Mortis“ konnte bis heute nicht wiedergefunden werden. Der ursprüngliche Gebäudekomplex wurde abgerissen. Auf Luftaufnahmen sieht man jedoch auf einem bestimmten Bild aus der Nacht vom 1. April 2023 eine schwache, leuchtende Tür auf einer betonierten Fläche. Sie führt… ins Nichts.


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