Der Flüsterboden

Der Flüsterboden

Ich hatte nie vor, in dieses Haus zu gehen.
Es war eines von diesen alten Gründerzeitgebäuden in einer halb verfallenen Straße, die jeder in meiner Stadt kennt, aber keiner mehr betritt.
Es hieß, das Dach sei vor Jahrzehnten eingestürzt und der Besitzer spurlos verschwunden. Doch das Seltsame war: Immer, wenn man vorbeiging, hörte man etwas – ein leises, trockenes Murmeln, das aus dem Boden drang.

Nicht von unten, sondern direkt aus dem Bodenbrett, auf dem du standest.


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1 – Der erste Schritt

Es begann an einem regnerischen Samstag.
Ich war mit meiner Kamera unterwegs, um verlassene Orte zu fotografieren. Urbex, wie man es nennt. Mein Kumpel Leon wollte nicht mitkommen – er meinte, das Haus hätte „Flüsterboden“ und er wolle nicht „mitreden müssen“. Ich hielt das für eine dumme urbane Legende.

Das Vorzimmer war dunkel, staubig, und das Holz knarrte bei jedem Schritt.
Dann – bei der dritten Diele – passierte es.

Es sprach.

Eine Stimme, als würde sie durch drei Meter Erde kriechen, kaum lauter als Atem:

> „Ich weiß, dass du mich hören kannst.“



Ich blieb stehen, die Hand am Kameraauslöser.
Das Murmeln vibrierte durch meine Schuhsohlen hoch in die Knochen.

> „Der vorige… ist noch hier.“



Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich zwang mich, weiterzugehen.


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2 – Regeln

Im Wohnzimmer lag ein zusammengefalteter Zettel mitten auf dem Boden.
Darauf standen fünf Regeln, in krakeliger, fast kindlicher Schrift:

1. Rede nicht zurück.


2. Bewege dich weiter – nie stehen bleiben.


3. Verlass das Haus vor Sonnenuntergang.


4. Wenn die Stimme leiser wird, ist sie näher.


5. Tritt nicht zweimal auf dieselbe Diele.



Ich lachte nervös. Wahrscheinlich ein Scherz von anderen Urbexern.

Dann fiel mir auf: Der Staub auf dem Boden war unberührt – außer dort, wo der Zettel lag. Keine Fußspuren, keine Krümel. Als hätte ihn etwas von unten hochgedrückt.


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3 – Die Namen

Im zweiten Raum sprach der Boden wieder, diesmal dringlicher.

> „Nicht hier stehen… er wartet unter dir.“



Ich machte instinktiv einen Schritt zur Seite – und spürte, wie die Diele hinter mir einen Schlag gegen meine Ferse gab, als würde etwas von unten nach oben stoßen.
Ich hob den Fuß und sah, wie ein langer, haarloser Finger langsam zwischen den Holzspalten hervorkroch. Er kratzte die Jahreszahl „1987“ in den Staub und verschwand wieder.

Die Stimme flüsterte:

> „Das war Leon.“



Mein Herz raste. Leon war zuhause. Lebendig.
Zumindest… dachte ich das.


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4 – Die Bewegung darunter

Je länger ich im Haus war, desto mehr merkte ich: Etwas unter den Dielen folgte mir. Nicht schnell, nicht hastig – eher wie ein unterirdisches Tier, das seinen nächsten Biss vorbereitet.

Ich erinnerte mich an Regel 5 und zwang mich, jede Diele nur einmal zu betreten. Das war schwierig, denn das Haus war voll von Sackgassen. Immer wenn ich umdrehen musste, begann der Boden unter meinen Füßen zu beben, als würde er wütend werden.

In einem Flur hörte ich es dann klar: Kratzen.
Nicht wie Nägel – eher wie Zähne, die Holz zerspanen.


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5 – Das Zimmer ohne Schatten

Das letzte Zimmer lag am Ende einer schmalen Treppe. Die Luft roch modrig und nach Metall.
Hier gab es keine Fenster. Nur eine nackte Glühbirne, die flackerte.

Als ich den ersten Schritt in den Raum setzte, sprach die Stimme sanft, fast zärtlich:

> „Bleib.“



Ich erinnerte mich an Regel 2 – nie stehen bleiben – und machte einen weiteren Schritt.
Plötzlich knackte etwas laut, und die Glühbirne erlosch. In der Dunkelheit spürte ich, wie der Boden unter mir zu atmen begann.

Warme Luft drang zwischen den Ritzen hoch, und mit jedem Ausatmen kam ein Geruch nach Erde, Blut und etwas, das an verbranntes Haar erinnerte.

> „Du musst nicht gehen. Du kannst unten bei den anderen schlafen.“




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6 – Die Entscheidung

Ich stolperte rückwärts in den Flur, atmete keuchend.
Das Flüstern war jetzt überall – unter jedem Brett, jedem Balken, jeder Treppenstufe. Es sagte meinen Namen, wieder und wieder, in Stimmen, die ich kannte. Leon. Meine Mutter. Sogar meine eigene.

Plötzlich wurde es still.

Dann, ganz leise:

> „Tritt noch einmal auf die erste Diele.“



Ich wusste, was es bedeutete.
Ich wusste, wenn ich es tat, würde ich nie wieder rauskommen.
Aber ich wusste auch: Die Regeln waren nicht dazu da, mich zu schützen. Sie waren dazu da, es zu füttern.


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7 – Der Ausgang

Ich rannte. Jede Regel brach ich, trat auf alte Dielen, blieb stehen, drehte mich um. Das Flüstern wurde zu Schreien, das Schreien zu einem tiefen, vibrierenden Dröhnen. Das Holz unter mir splitterte. Etwas griff nach meinen Knöcheln.

Ich schaffte es bis zur Eingangstür – und als ich hinausstolperte, war alles still.
Nur der Regen.

Doch als ich die Straße entlangging, bemerkte ich: Unter jedem Schritt auf dem Asphalt… vibrierte der Boden.


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8 – Offenes Ende

Heute Nacht habe ich geträumt, dass mein Schlafzimmerboden geatmet hat.
Als ich aufwachte, lag ein neuer Zettel neben meinem Bett.

Darauf stand nur eine Regel:

„Du bist noch nicht weit genug weg.“

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