Der Mann mit der Sanduhr im Gesicht
Der Mann mit der Sanduhr im Gesicht
Gefunden in einem verlassenen Notizbuch, datiert auf den 19. Oktober 1997.
Verfasser: Unbekannt
Status: Vermisst
Letzter bekannter Ort: Pension "Abendgold", Zimmer 7
„Wenn du ihn siehst, hast du schon verloren.“
Das war der erste Satz, den ich in das kleine, vergilbte Tagebuch auf dem Dachboden geschrieben fand.
Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, weiterzulesen. Vielleicht das Zittern in der Handschrift. Vielleicht die abgerissene letzte Seite.
Vielleicht... der Sand.
Denn in dem Notizbuch klebte Sand. Fein. Schwarz. Und irgendwie warm.
1. Oktober
Ich bin heute Nacht aufgewacht, weil jemand in meinem Zimmer stand. Ich weiß das, weil es plötzlich leiser war als zuvor.
Nicht ruhiger – sondern abwesender. Als hätte jemand das Geräusch aus der Luft gesaugt.
Ich sah nichts – nur eine Silhouette, schmal, regungslos, am Fußende meines Bettes.
Ich flüsterte „Hallo?“ – aber meine Stimme…
…war Sand.
2. Oktober
Er kommt nur, wenn du ihn siehst.
Du kannst ihn nicht hören. Nicht riechen. Nur sehen.
Und dann fängt es an.
Zuerst flackert dein Spiegelbild.
Dann verlierst du Zeit.
Zehn Minuten.
Eine Stunde.
Eine Nacht.
Alles zerrinnt.
So, wie es aus seinem Gesicht rinnt.
Denn da, wo Augen, Nase, Mund sein sollten…
…ist bei ihm nur eine Sanduhr.
Sie ist in die Haut genäht.
Oder aus Haut gemacht.
Ich weiß es nicht mehr. Ich will es nicht mehr wissen.
3. Oktober
Ich habe das erste Mal geblutet.
Nase.
Ohren.
Zähne wackeln.
Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, steht er näher.
Aber das Schlimmste ist:
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geblinzelt habe.
5. Oktober
Die Uhr in meinem Zimmer bleibt stehen, wann immer er auftaucht.
Mein Atem geht nicht weiter. Mein Herz aber schlägt schneller.
Als würde er beides auseinanderziehen –
Zeit und Körper.
Ich glaube…
er lebt rückwärts.
Und ich?
Ich bin seine Uhr.
7. Oktober
Ich hab den Hotelbesitzer gefragt, ob jemand schon mal von einem Mann mit Sanduhrgesicht gesprochen hat.
Er wurde bleich.
Dann sagte er nur:
„Dann hat er dich schon gefunden.“
Ich schrie.
Er zuckte nicht.
Dann zog er sein Hemd hoch.
Und ich sah es:
eine kreisrunde Sandnarbe auf seiner Brust.
Wie bei einer Uhr.
Oder einer Wunde, die nie heilt.
10. Oktober
Ich habe vergessen, wie alt ich bin.
Meine Stimme klingt nicht mehr wie meine.
Ich spreche verzögert.
Ich denke in Sekunden.
Er hat mir eine Nachricht hinterlassen.
Im Spiegel.
Geschrieben mit Sand.
„Du hast noch 3 Körner.“
Ich weiß nicht, was das heißt.
Aber es sind nur noch drei.
Und ich habe keine Ahnung, wie viele ich am Anfang hatte.
19. Oktober – Letzter Eintrag
Ich sah ihn heute bei Tag.
Am Fenster des Hauses gegenüber.
Er hat den Kopf schräg gelegt.
Die Sanduhr… war fast leer.
Ich sehe schon die letzte Schicht Haut in der Glaskammer zittern.
Ich habe alles versucht, nicht hinzusehen.
Ich hab mir die Augen verbunden.
Hab geschrien, geweint, gebettelt.
Aber du musst irgendwann hinsehen.
Denn Zeit…
ist Neugier.
Und Neugier ist das Seil, an dem er zieht.
Letzte Zeile, kaum lesbar, eingeritzt in Holz:
„Wenn du diese Geschichte liest, hast du ihn gesehen. Du weißt es nur noch nicht.“
ENDE
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