Die Bibliothek des Verschwindens

 

Die Bibliothek des Verschwindens


Es war an einem regnerischen Novembertag, als ich zum ersten Mal vor dem Gebäude stand. Von außen wirkte die Bibliothek verlassen, ein archaisches Relikt aus einer anderen Zeit, dessen Fassaden von Moos und Schwermut überwuchert waren. Die Fenster waren getrübt, als hätten sie jahrzehntelang keinen Sonnenstrahl mehr durchgelassen, und die Eingangstür war aus schwerem, dunklem Holz, dessen Maserung sich wie Adern durch das Material zog.

Der Geruch von altem Papier, Staub und etwas Unbestimmtem, das ich nicht einordnen konnte, schlug mir entgegen, als ich die Schwelle überschritt. Ich war auf der Suche nach einem besonderen Buch, einem Werk, das nicht einmal in den modernsten Archiven gelistet war. Doch was ich hier fand, war mehr als nur Literatur.


Die Gänge der Bibliothek waren endlos. Sie schlängelten sich in alle Richtungen, als hätten sie kein Ziel, und die Regale türmten sich bedrohlich hoch auf, beladen mit Büchern, deren Einbände von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Doch irgendetwas war anders an diesen Büchern. Manchmal schien es, als würden sie sich bewegen, als wollten sie mich anziehen oder vielleicht warnen.

Und dann begann das Flüstern.

Zunächst kaum hörbar, leise Stimmen, die wie ein Rascheln zwischen den Seiten klangen. Aber bald wurde es lauter, eindringlicher — eine unverständliche Sprache, ein Chor aus Stimmen, der direkt in meinen Kopf zu kriechen schien. Es war, als ob die Bücher selbst lebendig wären, als hielten sie Geheimnisse fest, die nie ans Licht kommen sollten.


Ich sah andere Besucher in der Bibliothek, doch merkwürdigerweise wurde ihre Zahl mit jeder Stunde kleiner. Erst fehlten nur einzelne Gesichter, dann ganze Gruppen. Niemand bemerkte es, oder wollte es nicht bemerken.

Eines Tages, als ich mich in einem besonders dunklen Flügel der Bibliothek befand, sah ich einen Mann, der mit gesenktem Kopf an einem der Regale stand. Als ich näherkam, war er plötzlich verschwunden — ohne ein Geräusch, ohne eine Spur.

Dasselbe geschah mit einer jungen Frau, die mir zuvor den Weg gezeigt hatte. Ihr Buch lag aufgeschlagen am Boden, doch von ihr selbst keine Spur mehr.


Die Architektur der Bibliothek begann sich zu verändern. Flure dehnten sich endlos aus, Türen öffneten sich, wo zuvor keine waren, und Wände schienen zu atmen. Ich verlor das Zeitgefühl, die Orientierung. Es war, als sei die Bibliothek ein lebendes Wesen, ein Labyrinth, das mich nicht mehr loslassen wollte.

Die Bücher in meiner Hand waren keine normalen Bücher mehr. Sie zeigten nicht mehr nur Wörter, sondern bewegte Bilder. Szenen von Menschen, die in den Seiten gefangen waren, schreien, fliehen, verzweifeln — und niemals entkamen.


Dann hörte ich die Stimme. Es war kein Echo, kein Geräusch von außen, sondern ein Flüstern in meinem eigenen Kopf.

„Komm zu uns...“

Sie versprach Wissen, Unsterblichkeit, Erlösung.

Aber ich spürte auch die Kälte, das Verlöschen der eigenen Existenz.

Die Dunkelheit kroch von den Seiten auf mich zu, verschlang jeden Lichtstrahl in meinem Geist.


Jetzt schreibe ich diese Zeilen, während ich inmitten der Regale sitze, mein Stift zittert, die Worte kaum noch aus meiner Kehle kommen. Ich fühle, wie ich selbst langsam zu einer Geschichte werde, zu einem Schatten, einem Flüstern, das darauf wartet, von einem anderen gefunden zu werden.


Die Bibliothek wartet.


Und ich? Ich weiß nicht, ob ich hier jemals wieder rauskomme.

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