Die drei Hexen von Eisenholz - Teil 2
Die drei Hexen von Eisenholz - Teil 2: Das Lied aus der Wand
2. November – 02:44 Uhr
Ich bin nicht tot. Noch nicht.
Ich schreibe das hier auf die Rückseite eines zerfledderten Kalenderblatts. Mein Notizbuch haben sie mir genommen. Oder besser: sie haben es verschlungen.
Ja – verschlungen.
Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.
Der Honigstimmen-Hexe ist es in den Bauch gerutscht, als wär’s Butter.
Aber der Reihe nach.
Ich hab nicht geschlafen.
Nach jener Nacht, als ich sie zum ersten Mal in meinem Fenster sah, rannte ich. Mit nackten Füßen. Blut tropfte durch die Dielen. Ich warf mich in den Wald, der nie wirklich still ist, wenn man allein ist. Jeder Ast, den ich brach, klang wie ein Warnschuss.
Und irgendwo – sie sangen.
Nicht laut.
Flüsternd.
Immer näher.
"Eins für den Atem,
Zwei für das Herz,
Drei für die Haut,
Und dann…
Kehrt der Schmerz."
Ich schlug mich durch bis zum alten Jagdhaus. Dort, wo der Förster vor drei Jahren Selbstmord begangen haben soll.
Sie fanden ihn ohne Gesicht.
Sie sagten, Tiere hätten ihn entstellt.
Lüge.
Ich bin jetzt in seinem Keller.
Denn der Wald lebt.
Der Wald schützt.
Er will sie nicht hier. Er weint, wenn sie singen. Der Boden ächzt.
Und hier… im Stein…
…scheint ihr Gesang zu flackern, wie ein Feuer, das nicht brennt.
Aber es gibt mehr.
Ich habe einen alten Radiorekorder gefunden – den, mit dem der Förster angeblich seine Wildgeräusche aufgezeichnet hat.
Die Kassette war noch drin.
Ich habe sie angehört.
Ein Fehler.
Ein grauenhafter Fehler.
Die Aufnahme beginnt mit normalen Waldgeräuschen.
Dann plötzlich…
Stimmen.
Kinderstimmen.
"Papa, wo bist du? Das Licht ist aus."
Dann… ein Flüstern.
Unmenschlich.
Feucht.
"Er darf nicht schreien. Der Wald schläft noch."
"Schneid zuerst die Hände ab. Er soll nicht graben."
"Ich will seine Augen. Sie glänzen so schön."
Dann:
Stille.
Eine lange, schwärende Stille.
Bis plötzlich jemand SEHR NAH am Mikro flüstert:
"Du hast uns gehört, Elias. Das war dumm."
"Jetzt weißt du zu viel."
Die Aufnahme endet mit einem Kratzgeräusch. Wie Fingernägel auf dem Gehäuse.
Ich habe seitdem nichts mehr angerührt.
Nur geschrieben.
03:15 Uhr
Die Wand neben mir ist… weich.
Nein, nicht brüchig.
Weich.
Wie Haut.
Sie atmet.
Und jetzt, gerade in diesem Moment, singt sie.
DIE WAND SINGT.
Kein Scherz. Ich schreibe das mit zitternden Händen.
"Dreh dich nicht um.
Dein Rücken ist warm.
Wir sind so nah.
Nur Haut… und Alarm."
Was zur Hölle heißt das?
Was zur Hölle wollen sie?
04:09 Uhr
Ich hab’s verstanden.
Ich weiß jetzt, warum sie die Haut wollen.
Nicht nur, um schön zu bleiben. Nicht nur, um zu leben.
Sie BRAUCHEN sie.
Als Masken. Als Eintrittskarten. Als… Schutzanzüge.
Denn da draußen – gibt es etwas noch Schlimmeres.
Etwas, vor dem selbst die Hexen Angst haben.
Etwas, das im Wind flüstert, wenn du zu lange allein in Eisenholz stehst.
Sie verkriechen sich in Menschenhaut wie in Rüstungen.
Sie nehmen unsere Stimmen, weil es die einzigen Worte sind, die das Andere nicht zerreißen kann.
Und ich?
Ich hab noch meine Haut. Noch.
Aber sie…
Sie schnuppern.
05:00 Uhr – Letzter Eintrag (vielleicht)
Ich höre Schritte.
Nicht oben.
Nicht unten.
In der Wand.
Sie ist aufgesprungen.
Da ist kein Mörtel. Kein Stein. Nur Fleisch.
Und da… steht Jonas.
Oh Gott.
Er lebt.
Nein.
Er bewegt sich.
Aber das ist nicht Jonas.
Nicht mehr.
Er hat keine Augen. Seine Haut ist glatt, zu glatt, wie gewachst.
Und seine Stimme…
Sie ist meine.
"Elias. Du hast so schöne Hände."
"Darf ich sie tragen?"
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