Die drei Hexen von Eisenholz – Teil 7: Das Herz schlägt schwarz
Die drei Hexen von Eisenholz – Teil 7: Das Herz schlägt schwarz
Abschnitt 1 – Das Erwachen
8. November – 00:00 Uhr
Ich bin der Wald geworden.
Oder der Wald ist ich geworden.
Es gibt keinen Unterschied mehr.
Mein Herz schlägt nicht mehr – zumindest nicht so, wie ich es kannte. Es schlägt schwarz, dumpf, wie ein uraltes, verrostetes Uhrwerk, das in endlosen Schatten tickt.
Über mir kreist die Nacht, dichter und schwerer als je zuvor. Die Sterne haben ihren Glanz verloren, als hätten sie Angst vor dem, was sich unter ihrem kalten Licht verbirgt. Die drei Hexen singen – ihr Gesang zerreißt die Luft wie scharfe Messer, die durch mein Fleisch schneiden.
"Komm, Elias," flüstert eine Stimme, so alt wie der Wald selbst, "du bist unser Herzschlag, unser Atem, unser Ende."
Ich will schreien, will rennen, doch meine Beine sind Wurzeln geworden, tief verwachsen in die schwarze Erde von Eisenholz.
Die Dunkelheit kriecht durch meine Adern wie kaltes, fauliges Wasser. Ich spüre die Haut an meinem Körper sich verändern, als würde sie von innen heraus zu Rinde werden. Es juckt und brennt, als ob eine Million Ameisen sich in meinem Fleisch verirrt hätten, doch es ist kein Jucken – es ist ein Flüstern.
Sie sprechen durch mich. Nicht mit Worten, sondern mit Schatten, mit Zischen und mit einem Sog, der alles verschlingt, was ich je gekannt habe.
Die Hexen sind keine Wesen mehr, die man fürchten kann. Sie sind der Wald. Der Wald ist sie. Ich bin nichts anderes als ein Funke in diesem gewaltigen, unheimlichen Organismus.
Mein Geist zersplittert in tausend kleine Splitter, jeder von ihnen trägt den Wahnsinn eines uralten Fluchs.
Und doch, irgendwo ganz tief in mir, hält sich ein letzter Funken Menschlichkeit fest.
8. November – 01:15 Uhr
Meine Gedanken sind nicht mehr meine. Sie werden von etwas Größerem gelenkt. Das Flüstern hat ein Gesicht bekommen.
Es ist die Honigstimmen-Hexe.
Ihr Antlitz gleitet in meinem Geist auf, ihre Augen sind schwarz wie die tiefsten Schatten in Eisenholz. Ihre Stimme ist süß wie verfaulter Honig, klebrig und tödlich.
"Du kannst nicht entkommen, Elias," haucht sie. "Du bist der Schlüssel, der die Tore öffnet. Du bist das Blut, das den Baum nährt."
Ich will weinen, doch keine Träne rinnt. Stattdessen tropft etwas Schwarzes von meinen Wimpern – nicht Wasser, sondern flüssiges Pech, das in der Dunkelheit zerspringt.
Der Wald hat sich verändert. Er ist lebendig, intelligenter als je zuvor. Die Bäume atmen, ihre Äste greifen wie Hände, die Erde pulsiert wie eine offene Wunde. Überall sind Stimmen – nicht nur die der Hexen, sondern die der verlorenen Seelen, die hier verschlungen wurden.
Ich höre sie flüstern:
"Er ist unser Blut."
"Er ist das Herz."
"Er ist der ewige Schatten."
Das Blut in meinen Adern gefriert.
8. November – 02:40 Uhr
Ich erinnere mich an den Förster.
An seine toten Augen, die wie leere Höhlen in seinem Gesicht lagen.
Die Hexen haben ihn genommen. Stück für Stück. Seine Haut wird zur Rüstung, sein Fleisch zum Holz.
Aber es reicht nicht.
Das Herz des Waldes verlangt mehr.
Es verlangt mich.
Ich fühle, wie die Erde unter mir bebt.
Die Luft riecht nach verbranntem Fleisch und morschem Holz.
Und ich weiß, dass dies nur der Anfang ist.
8. November – 03:50 Uhr
Ein letztes Mal höre ich ihren Gesang.
Drei Stimmen, so alt wie die Zeit selbst.
"Blut für Blut, Fleisch für Fleisch, Leben für Leben."
Die Worte schlagen in meinem Kopf ein wie Blitzschläge.
Ich sehe Bilder, die kein Mensch sehen sollte.
Verfallene Körper, in der Erde vergraben.
Augen, die in der Dunkelheit leuchten.
Hände, die aus dem Boden kriechen.
Und inmitten all dessen stehe ich.
Das Herz des Waldes.
Das letzte Licht vor der ewigen Nacht.
Abschnitt 2 – Der Wald erwacht
8. November – 04:30 Uhr
Ich stehe nicht mehr auf festem Boden.
Die Erde unter mir hat sich geöffnet, als hätte sie den Atem angehalten und dann ausgehaucht.
Ich falle, oder besser: Ich werde hineingezogen – nicht in einen Abgrund, sondern in eine andere Welt. Eine Welt aus Wurzeln und Fleisch, aus Schatten und Flüstern.
Die Dunkelheit hier ist anders. Sie saugt Licht und Hoffnung aus jeder Zelle, frisst Angst und Verzweiflung, um daraus neue Albträume zu spinnen.
Und sie ist lebendig.
Unzählige, zahllose Augen beobachten mich aus den Tiefen. Keine normalen Augen. Es sind schwarze Öffnungen, die nicht blinzeln, die nicht leuchten, die nur warten.
Warten auf das, was ich mitbringe.
Ein Herz.
Blut.
Leben.
Die drei Hexen haben sich längst in diesem Urwald eingekerkert.
Sie sind hier zuhause.
Und sie haben mich gerufen.
8. November – 05:10 Uhr
Der erste Baum, den ich berühre, schlägt aus.
Nicht grün.
Nicht lebendig.
Schwarz.
Er breitet seine Äste wie Finger aus, die sich um mich schließen, mich halten – nicht wie eine Umarmung, sondern wie eine Fessel.
Eine kalte Berührung, die bis in die Knochen zieht.
Ich versuche zu schreien, doch kein Ton verlässt meine Lippen. Meine Stimme ist verschwunden, verschlungen von der Dunkelheit.
Aus dem Nebel tauchen die drei Hexen auf.
Ihre Augen glühen wie Kohlen.
Die Honigstimmen-Hexe lächelt. Ihr Mund ist voll Nadeln.
"Willkommen zurück, Herz des Waldes," sagt sie mit einer Stimme, die gleichsam süß und vergiftet ist.
Ich sehe ihre Hände.
Sie sind voller Narben, die sich wie lebendige Adern bewegen.
Die Hexen greifen mich.
Nicht mit Gewalt.
Nicht mit Wut.
Mit einer sehnsuchtsvollen Verzweiflung.
8. November – 05:45 Uhr
Ihre Haut fühlt sich an wie altes Pergament, brüchig und doch unendlich stark.
Sie legen ihre Hände auf mein Gesicht, auf meinen Hals, auf mein Herz.
Ein Strom schießt durch mich, wild und kaltherzig zugleich.
Mein Herz beginnt zu schlagen – aber nicht für mich.
Es schlägt für den Wald.
Für die Dunkelheit.
Für das, was ich nie verstehen konnte.
Und dann höre ich es.
Das Lied.
Nicht ihr Gesang, sondern das Herz des Waldes selbst.
Ein pulsierender Rhythmus, tief in der Erde.
Ein Rhythmus, der alles Leben verschlingt.
Das Lied macht mich wahnsinnig.
Doch ich kann nicht entkommen.
8. November – 06:30 Uhr
Die Hexen flüstern.
Ihre Worte sind keine Sprache mehr.
Es sind Befehle.
Sie dringen in meinen Kopf ein.
"Werde eins mit uns."
"Werde das Blut."
"Werde der Schmerz."
Mein Körper beginnt sich zu verändern.
Meine Haut reißt auf.
Wurzeln brechen hervor.
Mein Herz wird schwarz.
Und ich sehe Bilder.
Von allen Seelen, die hier verloren sind.
Die hier gefangen sind.
Und ich weiß.
Ich bin nicht der Erste.
Ich werde nicht der Letzte sein.
8. November – 07:00 Uhr
Sie führen mich tiefer.
Durch Tunnel aus Holz und Fleisch.
Durch Hallen, in denen Schatten leben.
Ich fühle, wie mein Blut sich in Harz verwandelt.
Wie meine Adern zu Baumrinde werden.
Wie mein Atem zu Wind in einem uralten Wald.
Ich bin verloren.
Ich bin gebunden.
Ich bin das Herz des Waldes.
Und der Wald will mehr.
8. November – 07:45 Uhr
Die letzten Worte, die ich höre, bevor alles schwarz wird:
"Du bist kein Opfer mehr, Elias."
"Du bist die Ewigkeit."
Schwarze Leere
Abschnitt 3 – Das Ritual des Ewigen Holzes
8. November – 09:12 Uhr
Die Zeit löst sich auf.
Ich schwebe in einer Schwärze, die zugleich lebendig ist.
Kein Licht. Kein Klang. Nur das pochen meines verdorrten Herzens.
Dann beginnt das Ritual.
Die Hexen versammeln sich um mich.
Drei Schatten in alten Gewändern, durchtränkt vom Moos und Harz.
Sie heben ihre knochigen Hände und beginnen zu singen.
Ein Lied, so alt wie der Wald selbst, so voller Schmerz und Macht, dass es in der Luft zu brennen scheint.
Ihre Stimmen sind kein Gesang, sondern ein Weben von Flüchen, die das Fleisch zerreißen und die Seele zerschneiden.
Die Beschwörung
"Uralter Baum, hör unser Flehen."
"Wurzeln des Vergessens, breitet euch aus."
"Nehmt das Herz, das wir bringen, und macht es zum Kern."
Aus dem Boden brechen Wurzeln hervor, stark wie Stahl, scharf wie Messer.
Sie durchbohren mich, schneiden in meine Haut, fressen sich in mein Fleisch.
Schmerz ist keine Antwort mehr, sondern nur ein Echo.
Meine Schreie ersticken in der Erde.
Der Pakt
Die Hexen öffnen ihre Münder, aus denen eine schwarze, dicke Flüssigkeit tropft.
Sie berühren meine Stirn, meine Brust, mein Herz.
Eine Kälte, die sich ausbreitet wie ein Frost, der niemals schmilzt.
Sie flüstern Worte, die keine Sprache kennen.
Worte, die mein Blut erstarren lassen.
Worte, die mich zu ihrem Gefäß machen.
Der Wandel
Meine Hände versteinern.
Meine Adern werden zu Rindenadern.
Mein Atem wird schwer, als hätte ich Wasser in der Lunge.
Die Grenze zwischen Mensch und Baum verschwindet.
Ich bin Teil des Waldes geworden.
Doch nicht wie die Bäume, die leben.
Ich bin das schwarze Herz, der Puls der Dunkelheit.
Der Knotenpunkt, an dem das Böse seinen Ursprung findet.
Das Erwachen des Kults
Plötzlich öffnet sich die Erde unter mir.
Dutzende Gestalten steigen empor.
Andere Opfer, andere Seelen, die einst widerstanden haben.
Nun vereint in einer grotesken Armee aus Fleisch und Holz.
Ihre Augen sind leer.
Ihre Stimmen verstummen in einem endlosen Stöhnen.
Sie bewegen sich in einem langsamen, grausamen Tanz.
Ein Kult aus lebenden Puppen.
Der Schlussakt
Die Hexen legen ihre Hände auf mein versteinertes Herz.
Sie sprechen den letzten Fluch.
"Für immer gebunden, für immer verflucht."
In diesem Moment bricht das Herz auseinander.
Nicht in Stücke, sondern in Schatten.
Die Schatten breiten sich aus.
Sie kriechen in jeden Baum, jeden Ast, jede Wurzel.
Der Wald lebt.
Doch nicht als Heimat.
Sondern als Grab.
Das Ende – oder der Anfang?
Ich bin nicht mehr Elias.
Ich bin das Herz des Waldes.
Und ich werde wachen.
Über das Schweigen.
Über die Dunkelheit.
Über Eisenholz.
Abschnitt 4 – Die ewige Finsternis
8. November – 10:47 Uhr
Das Herz des Waldes schlägt.
Aber nicht im Rhythmus des Lebens.
Es pulsiert in langsamen, schweren Schlägen, wie ein uraltes Ungeheuer, das aus den Tiefen erwacht.
Ich spüre, wie die Schatten in mir zu wuchern beginnen, wie dunkle Ranken meine Gedanken umschlingen.
Meine Erinnerungen verblassen, doch ein Funke Widerstand bleibt.
Der Wald schreit
Die Bäume um mich herum beginnen zu ächzen und sich zu neigen, als wollten sie mich erdrücken.
Doch es ist kein natürlicher Wind, der durch die Äste fährt – es ist ein Flüstern, das von tief unten kommt.
Ein Chor aus verlorenen Seelen, deren Klagen sich mit dem Knarren der Äste vermischen.
Sie wollen, dass ich aufhöre zu kämpfen.
Dass ich Teil werde.
Dass ich vergesse.
Der letzte Widerstand
Ein Funken Licht durchbricht die Schwärze.
In der Ferne erkenne ich eine Silhouette.
Ein Mädchen.
Blutrot leuchten ihre Augen im Dunkel.
Sie schreit meinen Namen.
„Elias!“
Sie trägt ein Amulett, das ich längst verloren glaubte.
Das Symbol des alten Kults.
Doch ihre Stimme ist nicht feindlich.
Sie ist verzweifelt. Hilfesuchend.
Die Wahl
Vor mir öffnet sich ein Spalt in der Erde.
Ein Abgrund, der in endlose Finsternis führt.
Die Hexen treten zurück.
Sie haben ihre Aufgabe erfüllt.
Doch ich stehe an der Schwelle.
Zwischen Mensch und Monster.
Zwischen Leben und Tod.
Das offene Ende
Soll ich springen?
Soll ich mich der Dunkelheit hingeben und das letzte Fünkchen Menschlichkeit opfern?
Oder soll ich dem Mädchen folgen, dem letzten Hoffnungsschimmer in diesem Fluchwald?
Das Herz schlägt weiter.
Und ich weiß: Egal wie ich mich entscheide.
Eisenholz wird nie enden.
Denn dort, tief im Schatten,
warten schon neue Schreie.
Neue Opfer.
Neue Hexen.
Comments
Post a Comment