Die drei Hexen von Eisenholz
Die drei Hexen von Eisenholz
Datum: 31. Oktober. Ort: Eisenholz.
Niemand lebt freiwillig in Eisenholz. Einem vergessenen Dorf tief im Tannenforst. Es steht nicht auf Karten, nicht in Registern, nicht einmal auf alten Postwegen. Wer es dennoch findet, hat meistens Pech gehabt. Denn dort leben die drei Hexen.
Sie sehen nicht aus wie in Märchen. Keine Buckel, keine Warzen. Im Gegenteil: Sie sind schön. Makellos. Fast zu schön. Als wären sie gemalt. Als wäre die Haut auf ihren Gesichtern nicht ihre eigene.
Alles begann, als Jonas verschwand.
Ein 15-jähriger Schüler, der mit seinen Eltern in das leerstehende Haus am Waldrand gezogen war. Sie sagten, sie wollten "neu anfangen".
Doch Jonas war nur drei Tage da. Dann ging er nachts spazieren. Kam nie zurück.
Der Wald war still, als sie ihn suchten. Kein Wind. Keine Vögel. Kein Tier. Nur Bäume.
Bäume mit schwarzer Rinde. Die Luft: dicker als Öl. Jeder Schritt: schwer.
Nachts, wenn man lauschte, hörte man es manchmal aus der Richtung des alten Brunnens:
Kau-Geräusche.
Langsam. Nass. Reißend.
So, als würde jemand Fleisch von einem noch warmen Körper ziehen.
Ich bin nicht wie die anderen hier. Ich habe nachgeforscht.
Im Kirchenarchiv fand ich eine vergessene Chronik aus dem Jahr 1712. Dort hieß es:
„Dreifach ruft die Glocke tief, wenn ihr Tanz im Eisenholz beginnt. Drei Frauen, einst schön, nun fluchbeladen. Sie häuten die Reinen. Kochen ihre Herzen. Trinken ihre Stimmen. Und bleiben jung. Nur das Blut eines Kindes nährt sie. Das Fleisch hält sie ewig.“
Sie kommen alle 11 Jahre. Wenn der Schleier zwischen den Welten dünn wird. Wenn Halloween fällt auf einen Samstag bei Neumond.
Dann singen sie. Leise, wie ein Wiegenlied. Aber rückwärts. Und wenn du es einmal gehört hast...
...fängst du an, es mitzusummen. Ohne es zu merken. Immer, wenn du allein bist. Immer, wenn es dunkel ist.
Gestern verschwand ein zweites Kind.
Die kleine Marla. 8 Jahre alt. Zöpfe, Zahnlücke. Fröhlich – bis sie begann, mitten in der Nacht zu sprechen.
Mit jemandem, den niemand sah.
"Sie sagt, ich hab süßes Blut", sagte sie. "Und mein Herz sei weich."
Am Morgen war ihr Bett leer. Das Fenster stand offen.
Der Fenstersims: rot.
Aber nicht wie Kirschmarmelade.
Dunkler. Klumpiger.
Frisches Blut tropfte auf die Fliesen.
Ich ging zum Brunnen. Der, den alle meiden.
Ich stieg hinab.
20 Meter tief.
Dort unten: Tunnel. Aus Lehm.
Und dann: der Altar. Aus menschlichen Knochen. Frisch. Noch mit Resten dran.
Drei Schädel standen darauf. Kinderschädel.
Und über ihnen drei Masken aus Haut – wie Gesichter, sorgfältig abgezogen.
Wie Jonas.
Wie Marla.
Ich hörte sie, bevor ich sie sah.
Drei Stimmen. Eine kratzig wie rostiges Metall. Eine weich wie flüssiger Honig. Eine kindlich.
Sie trugen Leichenhäute wie Umhänge. Ihre Zähne waren nicht menschlich – sondern gezackt, wie Fischgräten.
Sie sangen das Lied. Das rückwärts gesungene Schlaflied.
Ich wusste, wenn ich atmete, würden sie mich hören.
Dann flüsterte eine von ihnen:
„Wir wissen, dass du hier bist, Elias.“
Ich hatte niemandem gesagt, dass ich kommen würde.
Ich rannte.
Aber der Brunnen war weg. Der Schacht war zugemauert.
Der Lehm lebte. Er atmete. Ich schwöre, ich hörte ein Herz schlagen in der Wand.
Ich kratzte meine Nägel blutig, versuchte durchzukommen.
Dann sah ich es:
Ein Gesicht aus Fleisch, in den Lehm gedrückt. Augen offen. Lippen zitternd.
Marla.
Sie war noch am Leben. Eingemauert.
Dann flüsterte sie:
„Sie häuten mich heute Nacht. Du bist der Nächste.“
Ich kam irgendwie raus. Ich weiß nicht wie. Ich habe seither nicht geschlafen.
Denn immer, wenn ich die Augen schließe, höre ich sie wieder singen.
Ich habe meine Haut an den Armen aufgeritzt, um wach zu bleiben.
Aber ich werde müde.
So verdammt müde.
Heute ist Samstag. Neumond.
31. Oktober.
Sie stehen vor meinem Fenster. Ich sehe sie im Glas.
Sie tragen meine Mutter.
Wenn du Eisenholz je findest:
Dreh um.
Renn.
Und sag keinem, wo du warst.
Denn sie brauchen neue Namen. Neue Stimmen. Neue Haut.
Und vielleicht...
…haben sie dich schon ausgesucht.
Comments
Post a Comment