Ein Albtraum wird wahr. – Teil 2: Identitätsbruch

 Ein Albtraum wird wahr. – Teil 2: Identitätsbruch

"Wenn du jeden Tag mit einem anderen Bewusstsein aufwachst – wie oft kannst du dann noch behaupten, du selbst zu sein?"


1. Der erste Bruch

Die Nacht kam schneller, als ich es wollte. Ich hatte mich mit Energy-Drinks, Tabletten und YouTube-Wahnsinn bis zur völligen Erschöpfung getrieben, aber irgendwann… bin ich eingeschlafen.

Als ich aufwachte, war alles... anders.
Nicht um mich herum – in mir.

Ich sah meine Hände. Fremd. Schlanker. Blasser. Mein Atem war flach, aber kontrolliert. Ich stand auf, mechanisch. Ich wusste, wie man läuft, wie man denkt. Und doch – es waren nicht meine Gedanken.

In meinem Kopf war eine Stimme. Meine Stimme, aber… emotionslos. Technisch. Fast wie ein Erzähler.
Ich ging ins Bad, schaute in den Spiegel. Mein Gesicht. Und doch... war mein Blick leer.

Ich sprach. Nicht in meiner Sprache. Französisch. Fließend. Ich kann kein Französisch.

Und auf meinem linken Arm…
...war mit schwarzem Filzstift etwas geschrieben:

„DU BIST NICHT DER ERSTE.“


2. Der zweite Schlaf

Ich blieb nicht lange wach.
Ich konnte nicht. Mein Körper… zwang mich. Die Müdigkeit überrollte mich wie ein Tsunami.

Und wieder: Schlaf.
Albtraum.
Rot flackerndes Licht.

Ich erinnere mich an Stimmen. Kreischende Schreie. Mein eigenes Gesicht, das mich ansah – ohne Augen. Und Hände, die mich festhielten. Zu viele Hände. Zu viele Finger.

Und dann…
wachte ich auf.


3. Der zweite Wechsel

Ich wusste sofort, dass es passiert war.
Diesmal war ich wütend.
Rasend.

Ich trat gegen meinen Schreibtischstuhl. Ich warf die Tastatur gegen die Wand. Ich schrie. Ich spuckte. Ich lachte.
Lachte laut.
Hysterisch.

Dann schrieb ich. Seitenweise. Worte, die nicht von mir stammten. In Zeichen, die ich nicht verstand. Runen, Spiralen, mathematische Gleichungen. Ich habe die Seiten verbrannt. Aber ich weiß: Sie sind noch da.

Und als ich abends duschen wollte, sah ich etwas in den Fliesen gespiegelt.
Ein Gesicht. Meins. Aber es grinste.

Ich grinste nicht.


4. Die dritte Persönlichkeit

Am dritten Tag war ich ruhig. Zu ruhig.
Ich stand auf, duschte, frühstückte.

Aber ich spürte… ich hatte keine Angst mehr. Keine Panik. Keine Erinnerungen an das, was war.
Nur... absolute Klarheit.

Ich öffnete Notepad und begann, einen Plan zu schreiben:

  • Schritt 1: Dokumentation

  • Schritt 2: Analyse der Persönlichkeitsverschiebung

  • Schritt 3: Versuch der Stabilisierung

Ich war nicht mehr ich – ich war ein Wissenschaftler.
Analytisch. Beobachtend.
Und ich schrieb auf:

"Host #3 stabil für 9 Stunden. Schlafphase 00:44 geplant."

Ich nannte mich Host.
Ich war jetzt nur noch ein Gefäß.
Für… was?


5. Der vierte Zustand

Tag vier.
Ich war… ein Kind.

Ich wachte auf mit Tränen in den Augen. Ich war verwirrt. Ich wollte Mama. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit in meinem Schrank.

Ich kritzelte mit Buntstiften (wo kamen die her?) Bilder auf die Wand.
Ein Mann ohne Gesicht. Ein Turm. Ein Kreis aus Augen.

Ich hörte Musik. Eine Spieluhr.
Aber ich hatte keine Spieluhr.
Sie war im Spiegel.

Und dann sprach ich – mit einer Stimme, die kein Kind haben sollte:

„Wir sind viele. Und bald… sind wir genug.“


6. Die fünfte Verschmelzung

Am nächsten Morgen: Ich war ich.
Aber auch nicht.
Ich erinnerte mich an alles.

Alle Ichs. Alle Rollen.
Der Wissenschaftler, das Kind, der Zerstörer, der Sprachlose.
Ich fühlte sie… in mir.

Und sie sprachen.
Nicht mit Stimmen, sondern mit Gedanken.
Immer gleichzeitig.
Wie ein Chor in meinem Schädel.

Ich war nicht mehr allein.
Ich war ein Knotenpunkt.

Und jede Nacht – jedes Schlafen – verstärkte das Konstrukt.

Ich konnte mich nicht mehr schlafen legen, ohne Angst zu haben, als etwas anderes aufzuwachen.


7. Die Begegnung im Wachzustand

Dann kam der Moment, den ich nicht erwartet hatte.
Ich war WACH.
Hellwach.

Mittags.
Sonne.

Und ich sah es.

Nicht im Traum.
Nicht in Spiegeln.

In der Realität.

Es stand vor meinem Fenster.
Lang. Schwarz. Gesichtslos.
Und hinter ihm…
Ich.

Oder ein Teil von mir.

Ein Ich mit weißen Augen.
Ein Ich, das mich angrinste.
Ein Ich, das winkte.

Ich fiel rückwärts. Ich schloss die Jalousien. Ich schrie. Ich betete – obwohl ich nicht glaube.
Aber der Tag war vorbei.

Ich wusste:
Die Persönlichkeiten kommen jetzt nicht mehr durch den Schlaf.

Sie sind jetzt hier.


8. Kein Entkommen

Ich habe aufgehört zu zählen.
Ich weiß nicht mehr, wer ich war, wer ich bin oder wer ich sein werde.

Manchmal schreibe ich Nachrichten in Sprachen, die nicht irdisch klingen.
Manchmal vergesse ich meinen Namen.
Manchmal sehe ich fremde Gesichter im Spiegel – meine Gesichter.

Ich träume nicht mehr.

Aber sie tun es.
In mir.
Für mich.

Und jede Nacht…
wird eine neue Version von mir geboren.

Ich bin nicht krank.
Ich bin nicht paranoid.

Ich bin ein Riss in der Realität.
Ein Durchgang.
Ein Host.

Und ich habe Angst, dass der Ursprungs-Ich schon längst weg ist.

Aber wenn DU das hier liest – dann frag dich:

Wie sicher bist du dir, dass DU heute als derselbe aufgewacht bist wie gestern?

Was, wenn du es einfach nicht bemerkst?


ENDE?

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