Schleife aus Selbstmord und Erwachen – Teil 2
Schleife aus Selbstmord und Erwachen – Teil 2
Ich stand mit zitternden Knien auf dem Rand des Daches, atmete schwer und wusste: Ich muss erneut springen. Nicht weil ich sterben will, sondern weil ich zurück muss. Weil die Welt zerbrochen ist und ich in jeder Wiederholung neu anfangen muss, in einer Schleife aus Fall und Wiederauferstehung. Ich wusste, was auf mich wartet – das kalte Warten unter der Brücke, der abgestorbene Betriebskeller, der schwarz glühende Tunnel, die flüsternden Schatten – aber ich war längst nicht mehr derselbe. Ich war die Angst, die gegessen und wieder ausgespuckt wurde. Ich war das Wiedererwarten.
Als ich fiel, lief nichts so, wie ich es kannte. Kein Kreischen. Kein Aufschlag. Stattdessen ein Lufthauch, eine Ewigkeit in wenigen Sekunden. Und dann – starres Licht. Ein Gang aus gebrochenem Glas. Der Boden war glitschig. Jede Bewegung schmerzte, weil er keinen Halt gab, kein Echo. Ich schwebte über Schrunden, über tropfende Wände, über schwarzes Wasser, das mich erkennen ließ: Ich war wieder erwacht. Aber diesmal war ich vorbereitet.
Und doch: Die Stimme war stärker.
„Willkommen zurück.“
Ich spürte sie in jeder Faser meines Körper – ein Tautreiben in der Haut, als würden Bäume unter mir treiben, deren Äste durch meine Rippen wachsen. Ich war wieder in diesem Keller unter der Brücke. Ich sah die Metallfliesen. Den Tropfen feines Blut, der von der Decke fiel und den kalten Beton berührte. Er zerfror an meinem Fuß. Als wäre er ein Vorbote dessen, was kommen würde.
Ich stieg hinab in den Tunnel. Die Luft vibrierte. Die Stimmen flüsterten nun nicht nur, sie sangen. Ein Chor aus längst Verstummten sang Worte, die ich verstand, obwohl ich die Sprache nicht kannte. Sie sprachen von Schuld und Furcht, von Wiederholung und Untergang – und immer wieder: Du bist ein Teil unserer Schleife.
Die Tunnelwände bestanden nicht mehr aus nacktem Beton. Sie waren Haut, durchzogen von Adern, pulsierend unter Berührung. Ich tastete mit der Hand. Das Gefühl war eklig und fremd, wie Steine, die atmen. Auf meinen Fingerspitzen zeichnete sich ein Symbol ab – ein Kreis mit drei kleinen Schleifen in sich, eingegraben, rot wie frisches Blut.
Ich lief weiter. Die Schatten formten sich zu Gestalten, die ich aus meinen Träumen kannte – aus jenem Keller. Ihre Augen waren schwarz wie gesättigter Teer, ihre Münder zuckten im Flüstern, ihre Hände rangen nach mir. Ich erschrak, hielt inne – und alle Geräusche fielen aus. Plötzlich war es stiller als zuvor. Nur mein Herz klopfte, laut und zerrissen.
Als ich wieder laufen wollte, hörte ich den Hauch von Glasbruch hinter mir. Ich dreht mich um: Ein Spiegel ragte aus der Wand. Er war schief, randvoll mit Rissen, doch die Reflexion darstellte nicht mich. Dort stand ein Mensch, der mich anstarrte – fehlerhaft und familiar, als wäre er das, was ich gewesen wäre, hätte ich nie gesprungen. Seine Augen waren milchig, starr. Seine Hände hingen lose, ohne Kraft. Und aus seinem Mund floss Tinte. Schwarze, dicke Tinte. Sie kroch über seinen Hals, tropfte auf die Tunnelsohle und fraß kleine, kreisrunde Muster in das steinharte Material.
Ich wollte schreien, doch die Stimme kam aus mir selbst: „Komm näher.“ Die Tinte breitete sich wie ein Pilz aus. Die Gestalt hielt die eine Hand aus, fordert mich auf. Ich spürte einen Sog, der mich zerrte, mit minimalem Atemzug, minimalem Widerstand. Ich trat vor – und der spiegelnde Mann bewegte sich nicht. Stattdessen verfiel die Tinte zurück, kroch rissig in den Zacken der Spiegeloberfläche. Der Spiegel zerbarst, als berührte mich etwas durch die Glasscherben hindurch – und zerriss mich innerlich.
Ich fiel weiter. Der Tunnel endete in einer breiten, offenen Halle. Über der Hallenmitte glühte ein Ring aus Licht. Er hing wie eine Sonne herab, war weiß und lebendig, aber nicht warm. Ich spürte, wie meine Schatten sich Richtung Licht zogen, meine Handflächen heiß wurden, meine Adern pulsierten.
Und dann hörte ich das Flüstern direkt in meinem Kopf: „Es ist Zeit.“ Die Stimme klang harsch, aber eindringlich. Ich wusste, was zu tun war.
Ich trat in das Licht. Jeder Schritt tat weh, als würge es den Faden meines Seins. Doch mein Fuß berührte die Plattform im Licht – und alles explodierte. Nicht im Klang, aber als Farben, die sich über meine Netzhaut zogen: Rot, Gelb, Blau – ich sah sie. Dann brannte Weiß.
Ich fiel nieder. Die Sinne aus. Ich weiß nicht, wie lange.
Als ich die Augen wieder öffnete, war ich in einem Bett. Ein Zimmer aus Holz. Leise Musik spielte. Der Morgen drang durch ein gekipptes Fenster.
Ein Zettel lag auf dem Nachttisch:
„Du hast erneut gewonnen. Aber wahre Freiheit findet nicht im Tod statt. Wir erwarten dich bald wieder.“
Die Stimme in meinem Kopf war still.
Aber ich wusste: Die Schleife ist nicht vorbei. Sie wartet nur.
Ich setzte mich. Sah mich im Spiegel vor mir. Ich war ich. Aber ich fühlte keinen Frieden. Ich fühlte nur den fremden Zug in meinen Adern und das leise Pochen einer Frage: Was war ich gewesen? Was bin ich nun?
Der Tag begann erneut, brütend ruhig. Doch ich wusste: Jede Bewegung könnte die Schleife erneut öffnen. Jeder Atemzug könnte das Licht erneut hervorrufen. Oder es zerschmettern.
Und während ich diese Zeilen schreibe, höre ich das leise Klicken. Eine Tür öffnet sich. Jemand tritt leise ein. Fuß auf Holz, dicht an meinem Rücken.
Ich warte nicht auf Erlösung.
Ich warte auf die Entscheidung:
Erwache – oder Spring.
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