Sie spielen wieder - Teil 2
Kapitel 1 – Die Einladung
Zwei Jahre sind vergangen, seit Maja verschwunden ist. Zwei Jahre seit der letzten Nacht, in der ich sie sah. Es war nicht einfach ein Verschwinden im klassischen Sinn – es war ein Löschen. Als hätte sie nie existiert. Keine Spuren, keine Hinweise, nur eine Stille, die tiefer schnitt als jedes Messer.
Und doch... ich erinnere mich an alles. An das Spielzeug. An Emmaline. An die Stimmen. Die Spieluhr mit dem vertrockneten Rosenmuster, die nachts zu spielen begann, obwohl niemand sie aufgezogen hatte. Und an das Flüstern, das immer nach dem letzten Ton kam. Ein Flüstern, das meinen Namen kannte.
Ich dachte, ich hätte es hinter mir gelassen. Ich bin umgezogen, habe meine Telefonnummer gewechselt, meine Vergangenheit begraben. Aber das Grauen ist hartnäckig. Es stirbt nicht. Es wartet.
Und es hat mich gefunden.
Der Umschlag war alt, vergilbt, riechend nach Schimmel und verbranntem Papier. Ich fand ihn eines Morgens auf meiner Türschwelle. Kein Absender. Nur mein Name, von einer kindlichen Hand auf das Papier geschrieben – in roter Tinte.
Innen lag eine Eintrittskarte.
Schwarz. Samtartig. In silberner, filigraner Schrift:
"Bibliothek des Verschwindens – Nur für eingeladene Augen. Eintritt: Mitternacht."
Auf der Rückseite ein handgezeichneter Stadtplan, eine rote Linie führte vom Zentrum der Stadt zu einem verlassenen Gebäudekomplex an der Grenze zum Industriegebiet. Dort, wo früher die städtische Zentralbibliothek stand, bevor sie nach einem Brand geschlossen wurde. Niemand sprach über diesen Brand. Niemand sprach über die Bibliothek.
Aber ich wusste, dass es kein Zufall war.
Und ich wusste, dass ich gehen musste.
Kapitel 2 – Der Eingang
Der Wind war eisig in dieser Nacht, obwohl der Kalender den Frühsommer anzeigte. Die Straßen waren leer. Kein Hund, kein Mensch, keine Geräusche – als hätte die Stadt selbst den Atem angehalten.
Ich stand vor dem Tor. Rostiges Eisen, dessen Gittermuster aussah wie ineinander verschlungene Buchstaben einer Sprache, die nicht menschlich war. Es war offen.
Der Hof war zugewuchert, die Fenster des Gebäudes eingeschlagen. Und doch... brannte Licht. Ein warmes, flackerndes Licht tief in den Hallen der Bibliothek.
Als ich die Schwelle überschritt, knarrten die Dielen wie sterbende Stimmen. Und der Geruch... alt, staubig, aber auch süßlich. Wie Kinderatem, vermischt mit verwesendem Papier.
Dann hörte ich das erste Flüstern.
„Er ist da... Er hat den Ruf gehört...“
Ich drehte mich um. Niemand.
„Er bringt Erinnerung mit...“
„Er bringt... Haut.“
Ich lief weiter.
Kapitel 3 – Die Puppenleser
In der Haupthalle türmten sich Regale bis zur Decke, vielleicht zehn Meter hoch. Bücher. Tausende. Und zwischen ihnen... Puppen.
Nicht Stoffpuppen. Nicht Plastik. Sondern solche, die aussahen wie Kinder, deren Gesichter in der Wachsschicht des Vergessens erstarrt waren. Jede saß auf einem kleinen Hocker vor einem Buch. Und sie lasen.
Ich weiß, wie verrückt das klingt.
Aber ich sah ihre Augen. Sie bewegten sich über die Seiten. Einige murmelten leise. Andere lachten... kindlich, glucksend, aber ohne Freude. Eine Puppe hob den Kopf, als ich vorbeiging, und sah mich direkt an.
„Du bist spät, Lars.“
Ich blieb stehen.
„Sie spielen schon eine Weile...“
„Wer?“, flüsterte ich.
„Na... wir.“
Ich rannte weiter.
Kapitel 4 – Die Kinderlesung
Tief im Inneren der Bibliothek öffnete sich ein runder Raum, geschmückt mit Teppichen, Kissen, Spielzeugen – wie eine Leseecke für Kinder. In der Mitte: ein riesiger Sessel. Darin saß eine Gestalt.
Sie war in Stoff gehüllt, wie eine Puppe selbst. Gesichtslos. Nur ein breites, aufgemaltes Lächeln. In den Armen hielt sie ein Märchenbuch.
Um sie herum saßen Kinder. Oder das, was aussah wie Kinder. Ihre Haut war zu glatt. Ihre Bewegungen zu synchron. Alle starrten sie das Buch an, während die Gestalt vorlas.
„...und dann schnitt der kleine Junge die Fäden durch, die ihm die Gedanken hielten... und wurde leer. So leer, dass er endlich... verschwinden konnte.“
Ein Kind drehte sich um und zeigte auf mich.
„Der Neue will zuhören.“
Die Gestalt lächelte.
„Dann soll er Platz nehmen.“
Ich wich zurück, aber hinter mir war die Tür verschwunden. Nur Bücher. Und Gesichter in den Regalen.
Kapitel 5 – Emmaline
Die Spieluhr stand auf dem Tisch. Dieselbe wie damals. Risse in der Lackierung, das Rosendesign kaum noch erkennbar. Ich wusste, wenn ich sie öffnete, würde das Lied beginnen. Das Lied, das Maja in den Wahnsinn getrieben hatte. Oder... weggeführt hatte.
Meine Hand zitterte, aber ich öffnete sie.
Die Melodie war sanft. Süß. Wie immer.
Pling – plong – pling – plong...
Und dann hörte ich sie.
Majas Stimme.
„Lars... ich bin hier... Ich bin Teil der Seiten...“
Ich schrie. Ich warf die Spieluhr gegen die Wand. Aber sie zersprang nicht. Sie rollte zurück zu mir, als hätte sie eigene Beine.
„Sie spielen wieder...“, flüsterte sie. „Und jetzt... bist du dran.“
Kapitel 6 – Das verschwundene Buch
In einem der Regale war ein Fach leer. Nur ein einziges. Dort klebte ein Zettel:
"Entliehen an: L. Wöhrmann – Rückgabe: Nie."
Mein Name. Ich hatte nie ein Buch aus dieser Bibliothek ausgeliehen. Aber als ich meine Hand ausstreckte, um den Zettel zu berühren, riss das Regal auseinander wie ein Maul.
Dahinter... eine Tür. Keine normale Tür. Aus Fleisch. Pulsierend.
Sie öffnete sich.
Ich trat hindurch.
Kapitel 7 – Das Buch, das dich schreibt
Der Raum war weiß. Keine Regale. Nur ein Podest. Und darauf ein Buch.
Groß. Dick. Und offen.
Die Seiten waren leer.
Doch als ich näher kam, begannen Buchstaben aufzutauchen.
„Lars betrat den Raum mit pochendem Herzen. Er wusste nicht, dass er der letzte war.“
Ich trat einen Schritt zurück. Neue Zeilen erschienen.
„Er zweifelte. Aber das Buch kennt keinen Zweifel. Es kennt nur Enden.“
Ich drehte mich um. Keine Tür mehr. Keine Wand. Nur das Buch. Und die Puppen. Sie waren überall. Stumm. Beobachtend.
Eine trat vor.
„Du hast gelesen. Jetzt wirst du... geschrieben.“
Sie hob die Spieluhr. Sie drehte sie auf.
Die Melodie begann.
Und alles wurde still.
Kapitel 8 – Offenes Ende
Ich weiß nicht, ob du das hier liest. Vielleicht bist du schon Teil des Regals. Vielleicht hörst du das Lied im Schlaf und erinnerst dich nicht. Vielleicht hast du auch eine Einladung bekommen.
Wenn du gehst, finde das Buch nicht.
Wenn du das Buch findest, lies es nicht.
Und wenn du liest... schreib nichts hinein.
Denn die Bibliothek vergisst nichts.
Sie schreibt.
Sie lebt.
Sie wartet.
ENDE?
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