Tagebuch eines Gebundenen
Tagebuch eines Gebundenen Auszug aus dem gefundenen Buch der Schwarzdorn-Riten Datum: unbekannt. Nur das Blut zählt die Zeit. Tag 1 Ich habe meinen Namen vergessen. Oder sie haben ihn mir genommen. Sie sagen, Namen seien Fesseln der alten Welt. Jetzt nennen sie mich nur „Knochenheiler“. Aber ich heile nichts. Ich forme. Ich binde. Ich ziehe die Sehnen straff, bis sie wie Geigensaiten klingen. Heute war meine Weihe. Sie führten mich in den Kreis – nicht mit Worten, sondern mit Stahlhaken durch die Schulterblätter. Ich durfte nicht schreien. Schreien ist das alte Fleisch, sagten sie. Ich soll lernen, mit geschlossener Kehle zu leiden. Der Boden des Ritualraums war warm. Nicht von Feuer – sondern von der Haut derer, die darunter lagen. Der Boden lebt. Er atmet. Und wenn man lang genug stillsteht, wachsen dir Fingernägel aus den Spalten zu Füßen. Tag 4 Der erste Mensch wurde gebracht. Ein Mann, nackt, gefesselt – nein, genäht – mit seinen eigenen Sehnen. Sie hatten sie a...